Die fremde Sprache und der Spracherwerb

Heinlich Schliemann (1822-1890) Archäologe
Ein Sprachgenie lernt Russisch

Am März 1844 erhielt ich eine Stelle als Korrespondent und Buchhalter in einer Firma in Amsterdam. Mein Gehalt betrug zuerst 1200 Frank. Als aber meine Vorgesetzten meinen Eifer sahen, gewährten sie mir noch eine jährliche Zulage von 800 Frank. Da ich glaubte, mich durch die Kenntnis des Russischen noch nützlicher machen zu können, fing ich an, auch diese Sprache zu studieren. Die einzigen russischen Bücher, die ich mir besorgen konnte, waren eine alle Grammatik, ein Lexikon und schlechte Übersetzung der "Aventures de Telemaque." Trotz aller meiner Bemühungen gelang es mir aber nicht, einen Russischelehrer zu finden; denn außer dem russischen Visekonsul, Herrn Tannenberg, der mir keinen Unterricht geben wollte, befand sich damals niemand in Amsterdam, der ein Wort von dieser Sprache verstand. So fing ich denn mein neues Studium ohne Lehrer an und hatte mir in wenigen Tagen, mit Hilfe der Grammatik, die russische Buchstaben und ihre Asussprache eingeprägt. Dann nahm ich meine alte Methode wieder auf, verfasste kurze Aufsätze und Geschichiten und lernte sie auswendig. Da ich niemanden hatte, der meine Arbeiten verbesserte, waren sie ohne Zweifel sehr schlecht; doch bemühte ich mich, meine Fehler durch praktische Übungen vermeiden zu lernen, indem ich die russische Übersetzung der "Aventures de Telemarque" auswendig lernte. Um schnellere Fortschnitte zu machen, engagierte ich einen armen Juden, der für vier Frank pro Woche allabendlich zwei Stunden zu mir kommen und meine russichen Übungen anhören musste, von denen er keine Silbe verstand.
Da die Zimmerdecken in den gewöhnlichen holländischen Häusern meist nur aus einfachen Brettern bestehen, kann man im Erdgeschoß oft alles vernehmen, was im dritten Stock gesprochen wird. Mein lautes Rezitieren wurde deshalb bald den anderen Mietern lästig. Sie beklagten sich bei dem Hauswirt, und so kam es, dass ich in der Zeit meiner russischen Studien zweimal die Wohnung wechseln musste. Aber alle diese Unbequemlichkeiten konnten meinen Eifer nicht vermeiden.
Nach sechs Wochen schrieb ich meinen ersten russischen Brief an Wasil Plotonikow, einen Kaufmann, mit dem meine Firma in Geschäftbeziehungen stand. Bald war ich imstande mich mit ihm und anderen russsichen Kaufleuten, die zu Auktionen nach Amsterdam kamen, fließend in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

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